Mehr als ein Ventil für die Unzufriedenen
Im Vorfeld von Wahlen machen gerade die etablierten Parteien Stimmung gegen diejenige
Konkurrenz an politischen Kräften, die es ihrer Meinung ohnehin nicht ins Plenum schaffen.
Jede Stimme für die „Kleinen“ sei verloren, diese Ansicht vertreten sogar manche Politologen.
Doch damit verkennen sie nicht nur deren grundgesetzlichen Schutz, sondern auch ihre
Bedeutung für die Demokratie, die weit über die Funktion eines Ventils für unzufriedene
Wähler hinausgeht. Denn auch Parteien, die den Einzug in Landesvertretungen oder den
Bundestag gemäß Umfragen verpassen, haben neben einer verfassungsrechtlichen Legitimation
auch keinerlei Grund zur Rechtfertigung. Jedes Kreuz auf dem Wahlzettel ist in Deutschland von
gleichem Wert und Rang. Der Anspruch auf den Ausdruck des freien Wählerwillens garantiert
die Würdigung und den Respekt vor jeglichem Votum. Es gibt keine Notwendigkeit oder in
irgendeiner Weise begründete moralische Verpflichtung und Verantwortung, zur Gestaltung
der politischen Zusammenhänge auf Parteien zurückgreifen zu müssen, die in den Parlamenten
vertreten sind oder die Chance haben, aufgrund ihres voraussichtlichen Abschneidens bei
einem Urnengang die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Immerhin findet die für einen
pluralistischen Staat so essentielle Opposition nicht nur in den legislativen Kammern statt.
Es ist völlig falsch, Stimmen für im Aufbau befindliche Parteien mit geringer Mitgliederzahl oder
einem beständigen Wahlergebnis unterhalb der Einzugsgrenze in Bundes-, Landes- oder
Kommunalvertretungen als vergeben anzusehen. Denn während der Nichtwähler mit seiner
Abwesenheit von einer Stimmabgabe einen inhaltslosen Protest oder Desinteresse ausdrückt,
setzt eine Mehrheit derjenigen Bürger, die ihr Kreuz bei einer alternativen Partei abseits des
gewohnten Spektrums abgeben, eine bewusste Entscheidung für eine explizit definierte und
bestimmte Politik des Unterschieds, um sich von Tradition und Gewohnheit abzusetzen.
Gleichsam ist es auch wahltheoretisch unsinnig, von unnötigen Stimmen für Kleinparteien und
hergegebenen Mitwirkungsmöglichkeiten zu sprechen. So ist im Unterschied zum Lager
derjenigen Menschen, die überhaupt nicht wählen und damit eine generelle Aussage über den
Zustand der Demokratie und Politikverdrossenheit treffen, die Anzahl der Stimmen für
Kleinparteien außerhalb der Parlamente wesentlich ausschlaggebend für die
Mehrheitsverhältnisse in Bundes- oder Landtagen. Je höher ihr Prozentanteil nämlich ausfällt,
desto schwieriger und anspruchsvoller wird die Koalitionsbildung werden. Damit nötigt der
Wähler einer nicht einziehenden Partei den innerparlamentarischen Kräften die
Auseinandersetzung mit der eigenen, der Programmatik möglicher Bündnispartner und
letztendlich auch den Forderungen und Positionen der außenstehenden Bewerber ab.
Kleinparteien besitzen grundlegende Elemente der Partizipation. Innerhalb ihrer Reihen ist die
Möglichkeit zur Mitgestaltung durch das einzelne Mitglied wesentlich größer als in den
„Volksparteien“ und jenen politischen Vereinigungen, die durch jahrzehntelanges Wirken im
Establishment Verkrustungstendenzen aufweisen und für einen Richtungswechsel kaum
erreichbar sind. Ihre Programmatik ist oftmals über lange Zeit gewachsen, gleichsam aber auch
derart verfestigt, dass ein wirklicher Aufbruch nicht mehr erreichbar und umsetzbar scheint. Ihr Kurs mag zwar stringent und in gewisser Weise verlässlich sein, weil er durch das politische
Tagesgeschäft schlichtweg abgeschliffen ist. Wer sich durch sie aber einen Wandel wünscht,
wird wohl genauso viele Dekaden warten müssen, bis Grundsatzentscheidungen durch eine
neue Generation herbeigeführt werden können. Ob CDU, SPD, Grüne, FDP oder DIE LINKE:
Schlussendlich taugen sie durch ihre festgefahrene Trägheit nicht für Reformen und sind als
relativ unbewegliche Elemente der repräsentativen Landschaft keine wirkliche Antwort und
Alternative für die drängenden Fragen einer schnelllebigen und flexibel gewordenen Epoche.
Wer kleineren und mittleren Parteien ihre Daseinsberechtigung abspricht oder sie als
überflüssige Versuche der Partizipation abtut, befördert eine oligarchische Abstumpfung der
Mehrheitsparteien-Gesellschaft, die dem Grundsatz der politischen Überzeugungsvielfalt und
damit einem Kern der freiheitlichen Staatsausformung zuwiderläuft. Dass gerade Vertreter der
stets in den Parlamenten vertretenen Parteien gegen die kleineren Konkurrenten wettern,
erklärt sich mit einem Blick in die Wahlergebnisse, Wahltagsbefragungen und Umfragen vor
den Urnengängen der letzten Jahre: Selten in der jüngeren Vergangenheit waren der
Stimmenanteil und Zuspruch für Kleinparteien derart groß wie im Augenblick.
Zusammenfassend lassen sich die Beweggründe dafür besonders bei einer näheren
Betrachtung der Wahlmotive der Menschen erkennen, die erstmals ihr Kreuz bei einer Partei
kleiner und mittlerer Größe gesetzt haben: Einerseits handelt es sich bei diesem Klientel
vornehmlich um junge Bürger, die tendenziell weniger Bindungskräfte aufweisen und
stattdessen zum Dasein eines Wechselwählers neigen. Andererseits werden die Kleinparteien
deshalb von dieser Bevölkerungsschicht bevorzugt, weil man ihnen einen über das Maß
bisheriger Veränderungen hinausgehenden Fortschritt zutraut, der von Ideologie losgelöst und
stattdessen pragmatisch, vernunftbezogen, praxisnah und von Alltagstauglichkeit geprägt ist.
Gerade der Umstand, dass in kleineren Parteien nur selten Berufspolitiker zu finden sind,
befördert das Vertrauen in diese politischen Kräfte. Ihnen traut man ein auf der Rationalität des
einzelnen Verantwortlichen basierendes Handeln und Abwägen zu, das nicht auf strategische,
taktische oder eigennützige Zwecke ausgerichtet ist. Viel eher agieren sie unabhängig und aus
der persönlichen Lebenserfahrung des kleinen Mannes heraus – und treffen hierdurch
glaubwürdige und authentische Entscheidungen, die nahe am Menschen sind. Wer also solche
Kleinparteien in die Verdammnis schicken will, wird letztendlich von Angst um die eigene
Mehrheit getrieben. Ohne die Existenz dieser alternativen Kräfte wäre ein Aufbruch aus
konservativen Strukturen unmöglich. Sie sind also nicht nur von elementarer Notwendigkeit,
weil sie eine tatsächliche Auswahl auf dem Wahlzettel garantieren. Stattdessen sind sie Ort
einer lebendigen und progressiven Fortentwicklung politischer Ideen und Konzepte einer
Generation von Bürgern, die das Angebot der etablierten Parteien nicht nur alle vier Jahre
durch ein Kreuz abnicken wollen, sondern einen aktiven Beitrag zur Ausformung neuartiger
Vorstellungen einer zukünftigen Gesellschaft leisten möchten. Die Sorge eines so manch
langgedienten Politikers vor deren im positivsten Sinne gemeinten Impulsivität bestätigt
abschließend die Unerlässlichkeit von minoritären Ergänzungen des Parteienspektrums.
Dennis Riehle