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„Kein Platz in naher Zukunft“

Bereits vor Beginn der Covid-19-Pandemie im Winter 2019/20 klagten viele über den Mangel an freien Psychotherapieplätzen und die damit verbundene – teils mehrere Monate andauernde – Suche nach einem solchen. Die bloße Suche nach einem freien Therapieplatz wird oftmals noch dadurch erschwert, dass viele Therapeut:innen keine Kassenpatient:innen akzeptieren. Verschärft hat sich diese ohnehin schwierige Situation im Laufe der Pandemie, in der unzählige Menschen weltweit eine Verschlechterung ihres psychischen Wohlbefindens beklagen.

Gerade während Corona ist das Risiko einer psychischen Erkrankung deutlich gestiegen. — Quelle: Pixabay.

Im Jahr 2019/2020 arbeiteten laut Pressemitteilung des Statistischen Bundesamt vom 30. März 2021 rund 48.000 psychologische Psychotherapeut:innen; hinzu kommen laut Bundesarztregister etwa 6.100 ärztliche Psychotherapeut:innen (Stand 31.12.2020), also insgesamt etwa 54.100 Therapeut:innen. Auf die Gesamtbevölkerung gerechnet bedeutet dies, dass derzeit gerade einmal ein:e Therapeut:in für mehr als 1.500 Menschen zur Verfügung steht. Zwar ist die Zahl in den letzten Jahren gestiegen, weiterhin aber deutlich zu wenig, was regelmäßig zu langen Wartelisten und -zeiten führt. Laut einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) soll die durchschnittliche Wartezeit auf ein Erstgespräch im Jahr 2017 ungefähr 5,7 Wochen betragen haben. Aus einem aktuelleren Beitrag der BPtK vom 11. April 2018 ging hervor, dass sich bereits ein Jahr später die Wartezeiten knapp verdreifacht haben auf rund 20 Wochen – wiederum zwei Jahre später waren es dann 22 Wochen. Ein Gutachten des Gemeinsamen Bundesausschuss ergab, dass rund 2.400 zusätzliche (ambulante) Praxissitze notwendig seien, „um eine bedarfsgerechte Versorgung psychisch kranker Menschen zu ermöglichen“. Im letztendlichen Beschluss wurden aus dieser Zahl jedoch gerade einmal 776 zusätzliche Sitze, also nicht einmal ein Drittel des Bedarfs wurde dadurch abgedeckt.

Wie also den Bedarf an Psychotherapieplätzen stillen? Bereits Anfang 2019 plante die Bundesregierung eine „Reform der Psychotherapeutenausbildung“, durch die unter anderem Psychotherapie als eigenes Studienfach geschaffen werden soll, welches sich in ein dreijähriges Bachelorstudium und ein konsekutives zweijähriges Masterstudium gliedert. Argumentiert wurde dies beispielsweise durch „eine […] Entwicklung in der Psychologie und in der Psychotherapie, […] wobei die Psychologie zum Teil ganz neue Bereiche abdeckt, die in der Psychotherapie keinen Platz haben und umgekehrt“, so Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD). Darüber hinaus rief Dr. Robby Schlund (AfD) die Bundesregierung dazu auf, ein solches Vollzeitstudium um mindestens ein praktisches Semester zu erweitern. Noch sinnvoller wäre es, die Wissensvermittlung im Masterstudium Psychotherapie fast ausschließlich direkt am Patienten durchzuführen, wie es laut Prof. Lauterbach in der Medizin auch immer öfter gemacht werde. Die Hürde des Numerus Clausus wird dadurch jedoch fortbestehen, wodurch es vielen allein wegen ihrer Abiturnoten unmöglich gemacht wird, Psychologie oder Psychotherapie zu studieren. Hier stellt sich die Frage, ob schlechte Noten in Fächern wie beispielsweise Geographie, Physik oder Sport, die die Abschlussnote natürlich dementsprechend verschlechtern, wirklich aussagekräftig darüber sind, ob ein:e Abiturient:in nicht doch für den Beruf in der Psychotherapie geeignet ist. Da in den meisten Schulen kaum bis gar keine Inhalte der Psychologie oder -therapie vermittelt werden, ist es ohnehin fragwürdig, das fachliche Potenzial anhand dieser Abschlussnote zu messen. Viel geeigneter wären in solchen Studienfächern doch Eignungstests, bei denen diejenigen, die am besten abschneiden, einen Studienplatz erhalten.

Bedarfsplanung und Nachfrage für Therapieplätze 2015. — Quelle: Bertelsmann Stiftung.

Die oben genannte Reform ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings geht es bei dem akuten Mangel an Psychotherapieplätzen nicht nur um die Ausbildung der Therapeut:innen, sondern auch primär darum, wie die Plätze an Patient:innen verteilt werden und wie zugänglich vorhandene Plätze sind. Seit einigen Jahren macht die sogenannte Terminservicestelle es leichter, an Sprechstunden für ein Erstgespräch zu kommen – die TSS ist dazu verpflichtet, innerhalb von fünf Wochen eine Sprechstunde zu vermitteln –, jedoch bedeutet das Erstgespräch nicht automatisch einen Therapieplatz, wie bereits erwähnt. Ein:e Therapeut:in könnte dann erneut als Vermittlung für ein passendes Therapieangebot dienen. Für Kassenpatient:innen wird die Vermittlung dann um ein Weiteres erschwert, wenn die Therapie in einer Praxis nicht von der Kasse übernommen wird. Gerade im ländlichen Bereich, wo der Mangel an Therapieangeboten ohnehin höher ist, kommen private Therapiepraxen den Wenigsten zugute. Hier ist der einzig richtige Ansatz, das Angebot an Kassensitzen weiter zu erhöhen oder eine Psychotherapie grundsätzlich für alle zugänglich zu machen. Bei letzterem existiere dann ein generelles Angebot der Krankenkassen, die Kosten für eine Therapie zu übernehmen, unabhängig davon, ob es sich heute noch um eine Privatpraxis handelt oder eine Kassenpraxis.

Die essenziellen Änderungen, die notwendig sind, um einerseits den Bedarf an Psychotherapieplätzen zu decken und andererseits die Ungleichheit des Angebots in urbanen und ruralen Räumen zu nivellieren, sind also sowohl gesetzlicher als auch universitärer Natur. Somit gilt es dringendst, die Hochschulausbildung für Psychotherapeut:innen umzustrukturieren, sowie existierende Gesetze und Regelungen hinsichtlich der Psychotherapie umfassend zu reformieren, damit die Diskrepanz zwischen gesetzlich Versicherten und privat Versicherten sowohl bezüglich des Angebots als auch bezüglich der Qualität der Behandlung minimiert werden kann – eine Idee, die sich auch auf andere Bereiche des Gesundheitswesens ausweiten ließe.

Kevin Effertz


Bei anhaltendem Hilfebedarf kannst Du dich an die Terminservicestelle (Tel. 116117) wenden oder die Therapeutensuchfunktion der BPtK (https://www.bptk.de/service/therapeutensuche/) nutzen, um eine:n Psychotherapeut:in in Deiner Nähe direkt zu kontaktieren.

IM NOTFALL kontaktiere bitte umgehend die kostenlose und anonyme Beratung der Telefonseelsorge (Tel. 0800/11 10 111 oder 11 10 222) oder bei Selbst- oder Fremdgefahr den Rettungsdienst (Tel. 112).


Quellen

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